Jugendliche aus der EU sollen in der Schweiz vermehrt eine Lehre machen können[i]. Ob die Umsetzung dieser Idee gefördert werden soll, darüber möchte der Bundesrat mit den Verbundpartnern der Berufsbildung eine Diskussion führen. Travail.Suisse begrüsst die gemeinsame Erörterung dieser Frage, möchte aber hier schon darauf hinweisen, dass sich dahinter eine komplexe Frage auftut, die nicht mit einfachen Antworten beantwortet werden kann.
Eine Bemerkung vorweg: Es gibt heute schon Jugendliche aus der EU, die in der Schweiz eine Lehre absolvieren. Vor allem in Grenzregionen (z.B. in der Region Basel) ist dies der Fall. Probleme gibt es diesbezüglich eigentlich keine. Höchstens stellt sich in bestimmten Berufen die Frage, ob die deutschen Lehrlinge genügend Französisch können und die französischen Lehrlinge genügend Deutschkenntnisse haben. Weitere Probleme gibt es keine.
Das, was der Bundesrat diskutieren möchte, geht allerdings über das hinaus. Nicht Jugendliche aus der Grenzregion, sondern Jugendliche aus Staaten mit einer hohen Erwerbslosigkeitsquote wie zum Beispiel Spanien sollen angeworben werden. Ein solches Projekt wirft einige ernsthaftere Fragen auf.
Erstens: Bedarf
Besteht überhaupt ein Bedarf nach einem solchen Projekt? Diese Frage lässt sich auf verschiedene Unterfragen aufteilen:
1. Brauchen die Betriebe/Branchen die Hilfe des Bundes?
Grundsätzlich ist es jedem Betrieb, jeder Branche freigestellt, ausländische Jugendliche für eine Lehre anzuwerben. Die Personenfreizügigkeit ermöglicht dies. Es braucht also, um eine solche Idee umzusetzen, den Bund nicht unbedingt.
Gibt es Branchen und Betriebe, welche gezielt ausländische Jugendliche für eine Lehre anwerben? Warum und wie machen sie es? Welche Erfolge haben sie damit? Warum machen es andere nicht?
Wenn es einen Bedarf von Seiten von Betrieben/ Branchen gibt, dass der Bund tätig werden soll, dann sollte er dies nur subsidiär tun. Möglich wäre eine Unterstützung über den Projektfonds Art. 54/55 BBG. Die Hauptverantwortung trägt aber eine Branche. Der Bund unterstützt nur aufgrund von klar definierten Kriterien.
Welche Kriterien müssten Branchen erfüllen, damit sie vom Bund unterstützt werden?
2. Gibt es bei Branchen und Betrieben einen Bedarf nach ausländischen Lehrlingen?
Die Idee, ausländische Jugendliche für eine Lehre in der Schweiz anzuwerben, ist aus der Tatsache entstanden, dass gegenwärtig rund 7000 Lehrstellen nicht besetzt sind. Für die betroffenen Branchen bedeutet das, dass sie in Zukunft über zu wenige Fachkräfte verfügen werden, wenn der jetzige Zustand längerfristig anhält. Sie müssen daher Strategien finden, wie sie ihrem Fachkräftemangel begegnen. Die Idee, ausländische Jugendliche für eine Lehre in der Schweiz zu gewinnen, macht nur dann Sinn, wenn die Jugendlichen nach der Lehre in der Mehrzahl in der Schweiz bleiben. Ansonsten hat man dann zwar Lehrlinge ausgebildet, aber nicht den Fachkräftemangel bekämpft.
Ist man sich dessen bewusst, dass sich Ausbildungen für die Betriebe und Branchen nur lohnen, wenn die Mehrzahl der Ausgebildeten in der Schweiz bleibt?
3. Gibt es einen Bedarf auf Seiten des Auslandes, z.B. Spaniens?
Die Jugenderwerbslosigkeit in der EU, vor allem auch in südeuropäischen Ländern ist hoch[ii]. Diese Länder stehen in der Pflicht, ihre Wirtschaft besser aufzustellen und mehr und bessere Arbeitsplätze[iii] zu schaffen. Haben diese Länder, z.B. Spanien, ein Interesse an einem Projekt, in dem ihre Jugendlichen in die Schweiz gehen, um dort eine Lehre zu machen? Folgendes scheint mir klar zu sein:
- Die Schweiz kann nicht Jugendliche in einem anderen Land offensiv bewerben, ohne dass die Regierung jenes Landes damit einverstanden ist.
- Ein Land wie zum Beispiel Spanien wird einem solchen Projekt nur zustimmen, wenn die Ausgebildeten nach der Lehre wieder in ihr Heimatland zurückkehren.
- Das andere Land hat nur Interesse an Ausbildungen, welche für ihre wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung sind.
Wie gross ist die Schnittmenge des Interesses der Schweiz und eines anderen Landes, ein solches Projekt durchzuführen?
Zweitens: Erfahrungen
Die Schweiz steht mit ihrer Idee nicht allein da. In Deutschland gibt es schon Erfahrungen damit. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat ein 140-Millionen-Euro-Programm aufgelegt, mit dem gezielt Jugendliche für eine Berufsbildung in Deutschland angeworben und finanziell gefördert werden sollen. Gemäss eines Papiers des Deutschem Gewerkschaftsbund DGB war „die Anwerbung ausländischer Jugendlicher für eine Berufsausbildung in Deutschland keine Erfolgsgeschichte: Projekte im Emsland (Anwerbung spanischer Jugendlicher) und in Brandenburg (Anwerbung polnischer Jugendlicher) müssen als gescheitert betrachtet werden. Die überwiegende Zahl der Jugendlichen hat die Ausbildung entweder nicht angetreten oder abgebrochen. So erreichten in Brandenburg lediglich fünf von 22 polnischen Jugendlichen das zweite Ausbildungsjahr. Im Emsland wurden nur sechs von 14 spanischen Bewerberinnen und Bewerbern in Ausbildung vermittelt. Ursprünglich sollten 35 spanische Jugendliche für eine Ausbildung gewonnen werden“[iv].
Was weiss man über die Erfahrungen anderer Länder mit solchen Projekten? Welches sind die Gründe für das Scheitern oder das Gelingen?
Drittens: Das schweizerische Potential ausnützen
Neben dem Blick ins Ausland lohnt sich auch ein Blick auf das inländische Potential an möglichen Personen zur Verminderung des Fachkräftemangels:
1. Erwachsene ohne berufliche Grundbildung
In der Schweiz gibt es rund 600‘000 Personen ohne berufliche Grundbildung. Davon haben mindestens 50‘000 Personen ein Potential, eine berufliche Grundbildung über eine Nachholbildung abzuschliessen. Das Projekt des SBFI „Berufsabschluss und Berufswechsel für Erwachsene“ geht den Möglichkeiten von Nachholbildungen von Erwachsenen nach und leistet so einen Beitrag
- zur Bekämpfung des Fachkräftemangels,
- zur Entlastung der Sozialversicherungen und
- zur persönlichen Besserstellung von Personen ohne berufliche Grundbildung.
2. WiedereinsteigerInnen
Eine Untersuchung von Travail.Suisse zeigt, dass pro Jahr etwa 13‘000 Personen nach einem familienbedingten Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt wieder eine Arbeit suchen. Je länger sie vom Arbeitsmarkt fern blieben, umso schwieriger haben es diese Personen, wieder eine ihren potentiellen Fähigkeiten entsprechende Arbeitsstelle zu finden. Die Unterstützungen durch die öffentliche Hand und die Sozialversicherungen fehlen weitgehend oder sind ungenügend und nehmen auf die Bedürfnisse der Zielgruppe kaum Rücksicht.
3. Ältere Arbeitnehmende
Die demografische Entwicklung bringt es mit sich, dass die älteren Arbeitnehmenden für die Wirtschaft bedeutender werden. Ihre Förderung und Weiterbildung blieb bisher aber ausserhalb politischer Überlegungen. Sollen sie aber ihre Rolle in Zukunft besser wahrnehmen können, sind Überlegungen zu einer besseren Ausnutzung ihres Potentials zu machen und die Erkenntnisse in Projekte umzusetzen.
4. In der Schweiz lebende AusländerInnen
Viele AusländerInnen in der Schweiz verfügen zwar über Ausbildungen. Ihre Diplome werden aber nicht anerkannt, so dass sie sich unter ihrem Wert im Arbeitsmarkt „verkaufen“ müssen.
Sind nicht eher die Potentiale der Schweiz besser auszunutzen als ausländische Jugendliche für Lehrstellen in der Schweiz anzuwerben?
Viertens: Ausländische Jugendliche sind eine „schwierige“ Zielgruppe
Einer der Gründe, warum in Grenzregionen die Lehrlingsausbildung von ausländischen Jugendlichen kaum Probleme bereitet, ist, dass diese Jugendlichen ihr soziales Netz nicht verlassen müssen. Sie können ihr Zuhause behalten. Das ist mit dem bundesrätlichen Projekt nicht möglich. Die Jugendlichen werden in einer wichtigen Entwicklungsphase ihres Lebens aus ihrem angestammten Umfeld herausgelöst und werden während der Adoleszenz drei bis vier Jahre ihrem familiären und kulturellen Umfeld entfremdet. Soll ein solches Konzept funktionieren, müssen viele Rahmenbedingungen erfüllt sein[vi].
Welche Rahmenbedingungen müssen in der Schweiz erfüllt sein, dass ein solches Projekt für die ausländischen Jugendliche zu einem Erfolg werden kann?
Fünftens: Berufsbildung exportieren statt Lehrlinge importieren[vii]
Statt Lehrlinge zu importieren könnte man ja auch die Berufsbildung exportieren und damit mithelfen, die Jugendarbeitslosigkeit in den betreffenden Ländern zu minimieren. So überzeugend in einem ersten Moment diese Idee erscheint, so schwierig ist ihre Umsetzung. Ein Statusbericht über die duale Ausbildung als Exportschlager zeigt, dass die Staaten, die mit der dualen Berufsbildung beglückt werden sollen, sich „schwer tun, ihre Bildungs- und Berufsbildungssysteme … zu reformieren“[viii].Widerstände sind von den Regierungen, der Administration und den Arbeitgebern trotz vorgängigen Abmachungen spürbar. Der in Deutschland (und in der Schweiz) zum Teil hochgelobten dualen Berufsbildung begegnet bei der Umsetzung viel Skepsis. Dies ist insoweit verständlich, als einerseits die Implementierung eines fremden Systems als Eingriff in die eigene Autonomie/Souveränität erlebt wird und anderseits das duale Berufsbildungssystem komplex und deshalb nur schwer verständlich und vermittelbar ist.
Wie kann die Schweiz ihr Berufsbildungssystem „verkaufen“ ohne imperialistisch zu wirken?
Sechstens: Diskussions- und Handlungsvorschläge
Die obigen Überlegungen führen uns zu folgenden Diskussions- und Handlungsvorschlägen:
- Es muss Klarheit herrschen über die Ziele des Projektes. Geht es die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der Jugendlichen in den EU-Staaten oder um die Bekämpfung des Fachkräftemangels bei uns? Solange das nicht klar ist, redet man aneinander vorbei und macht Fehler bei der Entwicklung eines Projektes.
- Wenn es um den Fachkräftemangel bei uns geht, stehen für Travail.Suisse andere Potentiale als die Jugendliche aus der EU im Vordergrund, die ausgeschöpft werden sollen. Dabei ist zu fragen, wie das vorhandene Lehrstellenpotential in Bezug auf die anderen Potentiale eingesetzt werden kann.
- Wenn es um die Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit in der EU geht, so geht es primär nicht darum, unser Berufsbildungssystem zu exportieren, sondern PolitikerInnen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Jugendliche und Eltern anderer Länder auf Berufsbildung „glustig“ zu machen. Wenn dann Anfragen kommen, sollten die Verbundpartner die Ressourcen haben, darauf angemessen zu antworten. Konkret bedeutet dies, dass über Art.54/55 BBG Gelder für Projekte für Veranstaltungen mit ausländischen Partnern zur Auseinandersetzung über das duale Berufsbildungssystem vorhanden und zugänglich sein sollten.
- Statt Lehren für ausländische Jugendliche sollten wir in der Schweiz eher Praktika anbieten, z.B. für BerufsbildnerInnen, HR-Verantwortliche, BranchenvertreterInnen etc.
- Hinter allem Handeln muss die Überzeugung stehen, dass die professionelle Vermittlung von praktischen – nicht nur von theoretischen – Kompetenzen eine Volkswirtschaft stärkt. Die konkrete Ausgestaltung des professionellen Berufsbildungssystems ist dagegen nicht unwichtig, aber zweitrangig.
07.10.2013 Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse
[i] https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Bundesrat-will-Junge-fuer-Lehre-in-die-Schweiz-holen-31524276
[ii] Die Jugenderwerbslosigkeit in der EU wird gegenwärtig mit 23,7% angegeben. Das bedeutet jedoch nicht, dass „fast jeder vierte Jugendliche arbeitslos wäre: Die Arbeitslosenquote misst die Zahl der Arbeitslosen in Prozent der Erwerbspersonen, doch zählen in diesem Alter viele Menschen zum Beispiel als Studenten noch gar nicht zu den Erwerbspersonen“. NZZ, Mittwoch, 2. Oktober 2013, S. 27.
[iii] https://translate.google.ch/translate?hl=de&sl=en&u=https://ec.europa.eu/employmentstrategy&prev=/search%3Fq%3Deuropean%2Bemployment%2Bstrategy%2Btowards%2Bmore%2Bbetter%2Bjobs%26client%3Dfirefox-a%26hs%3DuA3%26sa%3DX%26rls%3Dorg.mozilla:de:official%26biw%3D1680%26bih%3D880
[iv] „Berufliche Ausbildung in Deutschland – ein Beitrag zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa. DGB-Position zum Programm MobiPro-EU.“
[vi] Der in der Fussnote 1 erwähnte Bericht des DGB erwähnt 10 Kriterien für gute Rahmenbedingungen.
[vii] Diese Forderung stellt Rudolf Strahm in einer Kolumne vom 27.08.2013 im Tagesanzeiger auf.
[viii] Hermann Nehls, Thomas Giessler, Matthias Anbuhl, Duale Ausbildung als „Exportschlager“?, Statusbericht zu Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Zusammenarbeit in der beruflichen Grundbildung und der Aktivitäten der Bundesregierung, Berlin, 09. September 2013, S. 6.