Am 1. Januar 2004 trat das neue Berufsbildungsgesetz (BBG) in Kraft. Als besondere Neuerung verfügt das BBG über einen Projektfonds. Mit seiner Hilfe können wichtige und innovative Berufsbildungsprojekte mitfinanziert werden. Für Travail.Suisse, den unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, ist dieser Projektfonds ein grundlegendes Element für ein entwicklungsfähiges Berufsbildungssystem. Die Kriterienliste für die Bewilligung von Projekten muss deshalb auch regelmässig den aktuellen Bedürfnissen angepasst werden.
Artikel 54 und 55 des neuen Berufsbildungsgesetzes[i] sind zwei der Garanten für ein innovatives Berufsbildungssystem. Auf ihrer Grundlage können Berufsbildungsprojekte von Kantonen, Organisationen der Arbeitswelt oder anderen Akteuren der Berufsbildung mitfinanziert werden. Jährlich stehen diesem Projektfonds 10% der Berufsbildungsausgaben des Bundes zur Verfügung. Eine Legion von Lehrstellenprojekten fand in diesem Projektfonds ihre finanzielle Basis. Ausbildungsverbünde konnten damit finanziert, der Aufbau des Case Management angestossen, Berufsbildungsverordnungen aktualisiert und Berufsschauen durchgeführt werden, um nur einige der Projekte zu nennen. Der Fonds übernimmt normalerweise 60% der Projektkosten, so dass die Träger selber 40% Eigenleistungen einbringen müssen. Travail.Suisse hat aktuell drei Projekte am Laufen, die durch Fondsgelder angestossen wurden: Ein äusserst erfolgreiches Theaterprojekt für Berufsfachschulen, das sich mit Fragen der Integration verschiedener Nationalitäten im Lehrlingsalltag beschäftigt[ii]; zweitens das Projekt „Zukunft statt Herkunft“, das Instrumente für eine faire Lehrlingsselektion bereitstellt[iii] und drittens das Projekt „Wiedereinstieg“, das sich mit Handlungsfeldern und möglichen Massnahmen im Bereich der Bildung und Arbeitsmarktintegration von Wiedereinsteigenden auseinandersetzt[iv].
Der Kontext des Berufsbildungsgesetzes 2004: Lehrstellenmangel
Als das neue Berufsbildungsgesetz im Jahre 2002 ausgearbeitet und 2004 in Kraft gesetzt wurde, herrschte Lehrstellenmangel. Die Berufsbildungspolitik musste sich vor allem mit der Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen im eigenen Land auseinandersetzen. Der Blick auf die Erwachsenen in der Berufsbildung wie auch der Blick über die eigenen nationalen Grenzen hinaus war zu dieser Zeit kaum möglich. Entsprechend ist auch das Berufsbildungsgesetz ausgestaltet. Für den Projektfonds hat das negative Auswirkungen. Er kann verschiedene innovative Projekte nicht finanzieren, weil die gesetzlichen Grundlagen fehlen. Das ist natürlich für einen Innovationsfonds, der heute nicht die Probleme von 2004, sondern auch diejenigen von 2013ff. lösen sollte, eine kleine Katastrophe.
Neue Fragestellungen 2013
Situationen ändern sich, auch in der Berufsbildung. Aus dem Lehrstellenmangel ist ein zunehmender Fachkräftemangel geworden. Zudem ist die internationale Diskussion um die Berufsbildung in Fahrt gekommen, einerseits durch die Personenfreizügigkeit, die eine Vergleichbarkeit der Ausbildungen nötig macht, andererseits durch die hohe Jugenderwerbslosigkeit in verschiedenen Ländern Europas, die den Mangel der (rein) akademischen Bildungssysteme aufzeigt und zu einer Neubewertung der (dualen) Berufsbildung führt[v]. Innovative Projekte im Umfeld des Fachkräftemangels wie auch der internationalen Diskussionen sollten deshalb mitfinanziert werden können. Dazu sind Gesetzesänderungen nötig.
Förderung der Berufsbildung für Erwachsene
Eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt setzt heute minimal einen Abschluss auf Sekundarstufe II voraus. In der Schweiz verfügen rund 600‘000 Personen zwischen 25 und 65 Jahren über keinen solchen. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels ist es politisch angesagt, dieses Potential optimal auszunützen. Bildungspolitisch sind die Instrumente für die Berufsbildung für Erwachsene geschaffen: Abschlussprüfung für Erwachsene, Validierung von Bildungsleistungen, verkürzte Lehre und berufliche Grundbildung[vi]. Was hingegen fehlt, ist die gesetzliche Grundlage für die Förderung der Berufsbildung für Erwachsene. Diese Basis ist zu erstellen, und zwar nach Travail.Suisse im Artikel 12 des BBG. In seiner gegenwärtigen Fassung verpflichtet er die Kantone, geeignete Massnahmen zu ergreifen, die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten. Angesichts der sich verändernden Situation (aus dem Lehrstellenmangel ist ein Fachkräftemangel geworden) ist dieser Gesetzestext zu ergänzen. Neu müssen von diesem Artikel auch Erwachsene ohne Berufsausbildung erfasst werden. Artikel 12 könnte dann neu folgendermassen lauten:
«Vorbereitung auf die berufliche Grundbildung und die berufliche Nachholbildung :
Die Kantone ergreifen geeignete Massnahmen,
1 die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten;
2 (neu) die erwachsenen Personen ohne berufliche Grundbildung die Möglichkeit schaffen, über die anderen Qualifikationsverfahren (Nachholbildung) einen Abschluss der beruflichen Grundbildung zu erlangen.»
Eine solche Gesetzesänderung ist nötig, damit die Förderung der beruflichen Bildung für Erwachsene auch in das Kapitel 8 des Berufsbildungsgesetzes (Beteiligung des Bundes an den Kosten der Berufsbildung) und dort insbesondere in die Artikel 53 (Pauschalbeiträge an die Kantone) und Artikel 55 (Beiträge an besondere Leistungen im öffentlichen Interesse) aufgenommen werden kann. Nur so kann die notwendige Finanzierungssicherheit geschaffen werden.
Massnahmen zugunsten von älteren Arbeitnehmenden
In der Bildungsgesetzgebung fehlen bisher die älteren Arbeitnehmenden. Weder im Berufsbildungsgesetz noch im Weiterbildungsgesetz, das gegenwärtig im Parlament diskutiert wird, werden sie erwähnt. Sie kommen als spezielle Zielgruppe von Bildung und Weiterbildung in der Gesetzgebung nicht vor. Entsprechend fehlen heute auch Bildungsprojekte, welche die Zielgruppe „ältere Arbeitnehmende“ im Fokus haben. Dabei ist der Arbeitsmarkt angesichts der demografischen Entwicklung immer mehr auf gut qualifizierte ältere Arbeitnehmende angewiesen. Die Bildungspolitik ist deshalb gefordert, mit ihren Instrumenten die Arbeitsmarktfähigkeit der älteren Arbeitnehmenden zu stärken. Travail.Suisse schlägt vor, dass der Artikel 32 BBG den neuen Herausforderungen angepasst wird:
„Art. 32 Massnahmen des Bundes
1 Der Bund fördert die berufsorientierte Weiterbildung.
2 Er unterstützt insbesondere Angebote, die darauf ausgerichtet sind:
a. Personen bei Strukturveränderungen in der Berufswelt den Verbleib im Erwerbsleben zu ermöglichen;
b. Personen, die ihre Berufstätigkeit vorübergehend eingeschränkt oder aufgegeben haben, den Wiedereinstieg zu ermöglichen,
c. (neu) durch geeignete Massnahmen die Arbeitsmarktfähigkeit der älteren Arbeitnehmenden zu erhalten und zu verbessern.“
Förderung von internationalen Projekten
Die Berufsbildung der Schweiz ist zwar erfolgreich. Ihre Spezialitäten sind aber im internationalen Umfeld noch viel zu wenig bekannt und müssen daher noch bewusster verkauft werden. Das trifft insbesondere auch auf die höhere Berufsbildung zu. Das neue Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Travail.Suisse wird die Arbeit des Staatssekretariates auch daran messen, ob es ihm gelingt, die Berufsbildung im europäischen und internationalen Kontext besser zu „verkaufen“, das heisst, besser zu positionieren und so Schritt für Schritt eine gleichwertige Anerkennung der berufsbezogenen mit den allgemeinbildenden Bildungswegen auch auf internationaler Ebenen zu erreichen. Aus Sicht von Travail.Suisse wäre es klug, wenn das Staatssekretariat die Verbundpartner in den Verkauf der Berufsbildung vermehrt einbeziehen würde. Eine Möglichkeit wäre, den Artikel 55.3 des Berufsbildungsgesetzes dafür einzusetzen[vii] und vom Bundesrat zu erlangen, dass spezifische und innovative Projekte der Verbundpartner zum „Verkauf“ der Berufsbildung auf internationaler Bühne in Zukunft über die Artikel 54 und 55 finanziert werden können. Gegenwärtig fehlt dem Berufsbildungsgesetz die Dimension einer Verantwortung der Verbundpartner für die internationale Positionierung der Berufsbildung. Es ist daraufhin zu arbeiten, dass dieses Anliegen auf eine geschickte Art in eine Revision des Berufsbildungsgesetzes eingebracht wird.
Arbeitssicherheit – Knowhow-Sicherung in der Berufsbildung
Unfallverhütung ist Aufgabe der Arbeitgeber. Das gilt auch in Bezug auf die Lehrlinge. Diese Gruppe ist allerdings überdurchschnittlich in Arbeitsunfälle verwickelt[viii]. Zudem ist es die Aufgabe des SBFI, jene Ausnahmen zu bewilligen, die Jugendlichen erlauben, gefährliche Arbeiten während der Lehre zu verrichten[ix]. Die Berufsbildung hat daher eine doppelte Motivation, das Thema Arbeitssicherheit in ihrem Umfeld besser zu bearbeiten, z.B. über innovative Projekte. Es ist ernsthaft die Frage zu stellen, wie in Zukunft das Thema „Arbeitssicherheit“ in der Berufsbildung bearbeitet werden soll. Dies insbesondere auch deshalb, weil Forderungen auf dem Tisch liegen, die Altersgrenze für gefährliche Arbeiten von 16 Jahren auf 15 Jahre zu senken.
Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse, 23.09.2013
[iv] A. Zihler, V. Borioli Sandoz, Die Rückkehr ins Berufsleben erfolgreich meistern, Bern, Februar 2013.
[vii] BBG Art. 55.3: Der Bundesrat kann weitere Leistungen im öffentlichen Interesse festlegen, für die Beiträge gewährt werden können
[ix] Jugendarbeitsschutzverordnung, ArGV 5: Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI)2 kann mit Zustimmung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) für Jugendliche ab 16 Jahren insbesondere in den Bildungsverordnungen Ausnahmen vorsehen, sofern dies für das Erreichen der Ziele der beruflichen Grundbildung oder von behördlich anerkannten Kursen unentbehrlich ist. Es legt die notwendigen Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes fest.