Am 25. April 2017 fand die dritte Nationale Konferenz zum Thema ältere Arbeitnehmende statt. In der Schlusserklärung wurde zum ersten Mal der Begriff „Altersdiskriminierung“ aufgenommen und im Zusammenhang mit den älteren Arbeitnehmenden von einem notwendigen „Kulturwandel“ gesprochen. Aus Sicht von Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, wurde damit die Diskussion über die älteren Arbeitnehmenden auf eine neue, sachlichere Ebene gehoben, was nur zu begrüssen ist.
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Herausforderung Berufsbildung
Neben der Qualität ist vor allem die Aktualität eine wichtige Voraussetzung für eine zukunftsfähige Berufsbildung. Reformen und Innovationen müssen deshalb ihre ständigen Begleiterinnen sein. Auch die gesetzliche Grundlage der Berufsbildung – das Berufsbildungsgesetz BBG – ist hin und wieder zu hinterfragen und zu revidieren. Am diesjährigen Spitzentreffen kam man daher überein, eine gezielte Weiterentwicklung der Berufsbildung ins Auge zu fassen. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, trägt diese Entscheidung gerne mit und leistet einen ersten Beitrag dazu.
Berufsbildung leidet unter Spardruck
Der Bundesrat hat die Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI) 1 für die Jahre 2017–2020 verabschiedet. Das Berufsbildungsbudget des Bundes soll in dieser Phase um 1.4% bei einer angenommen Teuerung von 0.9% steigen. Dieser Vorschlag genügt in keiner Weise. Das bundesrätliche Ziel „Die Schweiz bleibt führend in Bildung, Forschung und Innovation, und das inländische Arbeitskräftepotenzial wird besser ausgeschöpft“, wird so nicht erreicht. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, wird sich dafür einsetzen, dass in der parlamentarischen Debatte Korrekturen vorgenommen werden.
Nationales Spitzentreffen der Berufsbildung: Berufsbildung stärken, auch für die Erwachsenen
Am heutigen nationalen Spitzentreffen der Berufsbildung haben unter der Leitung von Bundesrat Schneider-Ammann Vertreter von Bund, Kantonen, Politik und Wirtschaft eine programmatische Erklärung zur Berufsbildung verabschiedet. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, ist erfreut über das Zustandekommen der Erklärung. Besonders wichtig für die Zukunft ist, dass die Berufsbildung den Zugang auch für die Erwachsenen weit öffnet.
Die heute verabschiedete programmatische Erklärung (https://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/38828.pdf) erneuert die 2006 verabschiedeten „Leitlinien zur Optimierung der Nahtstelle obligatorische Schule – Sekundarstufe II“ (vgl. www.edk.ch/dyn/24187.php). Diese Leitlinien haben der Entwicklung der Berufsbildung wichtige Impulse gegeben, insbesondere die Forderung, dass „bis ins Jahr 2015 unter den 25-jährigen Personen“ der Anteil „der Absolventinnen und Absolventen mit einem Abschluss auf der Sekundarstufe II auf 95 Prozent“ steigen soll. Die heute verabschiedete programmatische Erklärung hält an diesem Ziel auch zukünftig fest, legt aber neu Schwerpunkte auch auf andere Bereiche wie zum Beispiel auf den Berufs- und Schulwahlprozess während der Volksschule und die Verringerung der Ausfallsquote während der beruflichen Grundbildung. Wichtig ist weiter die Stärkung der Höheren Berufsbildung wie auch die Schaffung eines individuellen Kompetenznachweises für Jugendliche, die (noch) nicht über die Voraussetzung für eine berufliche Grundbildung verfügen.
Erleichterung des Zugangs zu Berufsabschlüssen und Berufswechseln für Erwachsene
„Travail.Suisse setzt sich bei der Entwicklung der Berufsbildung schon lange dafür ein, dass der Zugang für die Erwachsenen zur Berufsbildung weit geöffnet wird“, sagt Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik von Travail.Suisse, „dafür setzen wir uns weiterhin ein“. Zu viele Hindernisse sind noch da, die es Erwachsenen fast verunmöglichen, einen Berufsabschluss oder einen Berufswechsel anzustreben. Dabei ist es im heutigen Arbeitsmarkt eine notwendige Voraussetzung, einen Berufsabschluss vorweisen zu können. Berufsabschlüsse von Erwachsenen (auch noch nach 40) sollten deshalb ermöglicht und unterstützt werden. „Der Fachkräftemangel wie auch die Zunahme der Bedeutung der älteren Arbeitnehmenden verlangen von der Berufsbildung, diese Zielgruppe vermehrt und gezielt in den Fokus zu nehmen“, sagt Weber-Gobet. Travail.Suisse begrüsst es sehr, dass die Spitzen der Berufsbildung die Massnahmen in Bezug auf den Berufsabschluss und den Berufswechsel für Erwachsene intensivieren möchten.
Bildungspolitik für ältere Arbeitnehmende
Die Schweiz verfügt über ein effizientes und – aufs Ganze gesehen – über ein gut funktionierendes Bildungssystem. Es steht allerdings vor neuen Herausforderungen. Der Fachkräftemangel verlangt, dass das Potential von inländischen Arbeitskräften besser ausgenutzt wird, auch das der älteren Arbeitnehmenden. Bisher hat diese Zielgruppe in den bildungspolitischen Diskussionen und Projekten keine oder kaum eine Rolle gespielt. Das muss sich ändern. Sollen die älteren Arbeitnehmenden vermehrt und wenn möglich bis zum Pensionierungsalter im Arbeitsmarkt bleiben und eine gewichtigere Rolle spielen, so ist alles zu unternehmen, damit sie ihre Beschäftigungsfähigkeit behalten und ausbauen können. Dies bedingt erstens, dass sie nicht mit zunehmendem Alter aufgrund von Dequalifizierung in berufliche Sackgassen geraten und trotz freien Stellen nicht angestellt werden. Zweitens müs-sen sie sich neue und notwendige Kompetenzen frühzeitig aneignen und sich so als wichtige Leistungsträger ausweisen und bewähren können.
Bildungspolitische Massnahmen zugunsten der älteren Arbeitnehmenden dürfen aber nicht erst bei den 50 oder 55-Jährigen ansetzen. Eine Bildungspolitik zugunsten der älteren Arbeitnehmenden darf nicht nur die Arbeitnehmenden 50+ einschliessen, sondern muss spätestens in der Mitte des Arbeitslebens beginnen, das heisst um das 40. Lebensjahr herum.
Ein wichtiges Element zur Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit der älteren Arbeitnehmenden besteht darin, die Laufbahnberatung für Erwachsene in der Lebensmitte zu intensivieren. Ein solcher Zwischenhalt schafft Überblick über die beruflichen Chancen, Risiken, Lücken und Wünsche und ermöglicht eine Bildungsplanung für die zweite Hälfte des Arbeitslebens zur Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit bis zum Pensionierungsalter.
Eine Weiterbildungspolitik für ältere Arbeitnehmende soll dafür besorgt sein, dass die Weiterbildung zielgruppenspezifisch erfolgt, das heisst, die Bedürfnisse und besonderen Anliegen älter werdender Arbeitnehmender müssen ernst genommen werden.
Für älter werdende Personen mit einem Qualifizierungsbedarf (Wiedereinsteiger/innen, erwachsene Berufseinsteiger/innen und Berufswechsler/innen) sind übergeordnete Konzepte zu entwickeln, die Auskunft geben über die Ziele, die umzusetzenden Massnahmen, die Finanzierung, die Organisation, die Verantwortlichkeiten und das Monitoring. Dabei muss klar rüberkommen: Erstens: Auch älter werdende Arbeitnehmende sind nicht zu alt für gezielte Bildungsmassnahmen. Und zweitens: Es lohnt sich für die Personen selber wie auch für die Wirtschaft und Gesellschaft, wenn im vorgerückten Alter noch berufliche Korrekturen vorgenommen werden.
PH SRK als Chance für Menschen ohne Berufsabschluss
Kurztext für die Fachtagung „PflegehelferInnen SRK stärken“ vom 02.09.2104
Damit Arbeitnehmende auf dem Arbeitsmarkt reüssieren, wird es immer wichtiger, dass sie über einen Abschluss verfügen, der in ihrem Berufsfeld anerkannt wird. Dies kann ein Berufsbildungs- oder Weiterbildungsabschluss sein.
Für Erwachsene, die einen Berufsabschluss nachholen wollen, sieht das Berufsbildungsgesetz, verschiedene Wege vor: eine reguläre berufliche Grundbildung, eine verkürzte berufliche Grundbildung, eine direkte Zulassung zum Qualifikationsverfahren und eine Validierung der Bildungsleistungen. Alle diese Wege sind für Erwachsene ohne Berufsabschluss an-spruchsvoll: inhaltlich, zeitlich, finanziell und organisatorisch. Für viele Betroffene stellt sich die Frage: Wie kann ich die Arbeit, die Bildung, das Familienleben und die Finanzierung unter einen Hut bringen?
Die Ausbildung zur Pflegehelferin SRK ist keine Ausbildung nach Berufsbildungsgesetz. Es ist ein Weiterbildungsabschluss, der aber im Gesundheitsbereich anerkannt und geschätzt wird. Für die Teilnehmenden an dieser Ausbildung ist insbesondere interessant, dass schon nach einer relativ kurzen Ausbildungsdauer (120 Theoriestunden, 12 Tage Praktikum) als Pflegehelferin gearbeitet werden kann. Auch die Kosten – in etwa CHF 2500.00 – sind überschaubar.
Aufgrund der kurzen Ausbildungsdauer ist es wichtig, dass Pflegehelferinnen einen regelmässigen Zugang zu internen und externen Weiterbildungen haben. Denn sie übernehmen Verpflichtungen in einem komplexen und sich entwickelnden Arbeitsfeld, ihre Arbeit ist existenziell herausfordernd, die Verantwortlichkeiten im Team sind streng geregelt und müssen ver-standen und eingehalten werden. Der Weiterbildungsabschluss PH SRK ist daher mit regelmässigen Weiterbildungen zu ergänzen. Dabei macht es Sinn, wenn die Bildungsanbieter ihre Angebote aus Qualitätsgründen und im Hinblick auf die Anrechnung von Bildungsleistungen an einen weitergehenden Abschluss koordinieren.
„Kein Abschluss ohne Anschluss!“ Dieser Grundsatz des schweizerischen Bildungssystems soll auch für den Weiterbildungsabschluss PH SRK gelten. Er soll für Interessierte die Tür öffnen zu einem Berufsbildungsabschluss wie etwa dem zur Assistentin Gesundheit, ein Be-rufsbildungsabschluss auf dem Niveau Berufsattest, der 2011 eingeführt wurde.
Der Gesundheitsbereich hat es in der Hand, ein interessantes Modell für den Berufseinstieg von Erwachsenen ohne Berufsabschluss zu entwickeln. Mit dem Weiterbildungsabschluss PH SRK existiert bereits ein niederschwelliger, schweizweit koordinierter Einstieg in eine anerkannte und nachgefragte Berufstätigkeit. Wenn es nun noch gelingt, ein koordiniertes Konzept zur Erlangung eines Berufsbildungsabschlusses zu etablieren, das die besonderen Bedürfnisse von Erwachsenen ernstnimmt, dann hat man viel erreicht. Und zwar sowohl für die Er-wachsenen ohne Berufsabschluss, die damit einen gangbaren Weg in eine interessante Tätigkeit mit Entwicklungsmöglichkeiten sehen wie auch für den Gesundheitsbereich selber, der vor allem in der Langzeitpflege und -betreuung angesichts der demografischen Entwicklung auf motivierte Arbeitnehmende auf verschiedenen Stufen angewiesen ist.
Sowohl das neue Weiterbildungsgesetz (Art. 7: Anrechnung von Bildungsleistungen an die formale Bildung) wie auch der Bericht des Bundes „Berufsabschluss und Berufswechsel für Erwachsene – Bestehende Angebote und Empfehlungen für die Weiterentwicklung“ motivieren die Branchenverbände, sich solche Konzeptüberlegungen auf nationaler Ebene zu machen.
Weg frei für das erste eidgenössische Weiterbildungsgesetz
Communiqué
Heute hat der Nationalrat die letzten beiden Differenzen zum Ständerat bereinigt und damit den Weg frei gemacht zum ersten eidgenössischen Weiterbildungsgesetz (WeBiG). Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, ist darüber sehr erfreut. Damit wird erstmals eine koordinierte Weiterbildungspolitik auf nationaler Ebene möglich.
Besonders begrüsst Travail.Suisse die Regelungen über die Grundkompetenzen. In Zukunft hat sich der Bund gemeinsam mit den Kantonen dafür einzusetzen, dass Erwachsenen mit fehlenden Grundkompetenzen der Erwerb dieser Grundkompetenzen und deren Erhalt ermöglicht wird (vgl. Art. 14 WeBiG). Die Grundkompetenzen sind eine wichtige Voraussetzung für die berufliche Nachholbildung Erwachsener und die Beteiligung weiterbildungsferner Personen an der Weiterbildung. Für die Zukunft wichtig ist auch, dass das Gesetz Bund und Kantone zur Koordination ihrer Aktivitäten im Weiterbildungsbereich auffordert (vgl. Art. 4d). „Dank den koordinierten Aktivitäten können Zielgruppen erreicht werden, die bisher nicht in den Genuss von Weiterbildung gekommen sind“, ist Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik bei Travail.Suisse, überzeugt.
Ausländische Lehrlinge: Auf komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten
Jugendliche aus der EU sollen in der Schweiz vermehrt eine Lehre machen können[i]. Ob die Umsetzung dieser Idee gefördert werden soll, darüber möchte der Bundesrat mit den Verbundpartnern der Berufsbildung eine Diskussion führen. Travail.Suisse begrüsst die gemeinsame Erörterung dieser Frage, möchte aber hier schon darauf hinweisen, dass sich dahinter eine komplexe Frage auftut, die nicht mit einfachen Antworten beantwortet werden kann.
Eine Bemerkung vorweg: Es gibt heute schon Jugendliche aus der EU, die in der Schweiz eine Lehre absolvieren. Vor allem in Grenzregionen (z.B. in der Region Basel) ist dies der Fall. Probleme gibt es diesbezüglich eigentlich keine. Höchstens stellt sich in bestimmten Berufen die Frage, ob die deutschen Lehrlinge genügend Französisch können und die französischen Lehrlinge genügend Deutschkenntnisse haben. Weitere Probleme gibt es keine.
Das, was der Bundesrat diskutieren möchte, geht allerdings über das hinaus. Nicht Jugendliche aus der Grenzregion, sondern Jugendliche aus Staaten mit einer hohen Erwerbslosigkeitsquote wie zum Beispiel Spanien sollen angeworben werden. Ein solches Projekt wirft einige ernsthaftere Fragen auf.
Erstens: Bedarf
Besteht überhaupt ein Bedarf nach einem solchen Projekt? Diese Frage lässt sich auf verschiedene Unterfragen aufteilen:
1. Brauchen die Betriebe/Branchen die Hilfe des Bundes?
Grundsätzlich ist es jedem Betrieb, jeder Branche freigestellt, ausländische Jugendliche für eine Lehre anzuwerben. Die Personenfreizügigkeit ermöglicht dies. Es braucht also, um eine solche Idee umzusetzen, den Bund nicht unbedingt.
Gibt es Branchen und Betriebe, welche gezielt ausländische Jugendliche für eine Lehre anwerben? Warum und wie machen sie es? Welche Erfolge haben sie damit? Warum machen es andere nicht?
Wenn es einen Bedarf von Seiten von Betrieben/ Branchen gibt, dass der Bund tätig werden soll, dann sollte er dies nur subsidiär tun. Möglich wäre eine Unterstützung über den Projektfonds Art. 54/55 BBG. Die Hauptverantwortung trägt aber eine Branche. Der Bund unterstützt nur aufgrund von klar definierten Kriterien.
Welche Kriterien müssten Branchen erfüllen, damit sie vom Bund unterstützt werden?
2. Gibt es bei Branchen und Betrieben einen Bedarf nach ausländischen Lehrlingen?
Die Idee, ausländische Jugendliche für eine Lehre in der Schweiz anzuwerben, ist aus der Tatsache entstanden, dass gegenwärtig rund 7000 Lehrstellen nicht besetzt sind. Für die betroffenen Branchen bedeutet das, dass sie in Zukunft über zu wenige Fachkräfte verfügen werden, wenn der jetzige Zustand längerfristig anhält. Sie müssen daher Strategien finden, wie sie ihrem Fachkräftemangel begegnen. Die Idee, ausländische Jugendliche für eine Lehre in der Schweiz zu gewinnen, macht nur dann Sinn, wenn die Jugendlichen nach der Lehre in der Mehrzahl in der Schweiz bleiben. Ansonsten hat man dann zwar Lehrlinge ausgebildet, aber nicht den Fachkräftemangel bekämpft.
Ist man sich dessen bewusst, dass sich Ausbildungen für die Betriebe und Branchen nur lohnen, wenn die Mehrzahl der Ausgebildeten in der Schweiz bleibt?
3. Gibt es einen Bedarf auf Seiten des Auslandes, z.B. Spaniens?
Die Jugenderwerbslosigkeit in der EU, vor allem auch in südeuropäischen Ländern ist hoch[ii]. Diese Länder stehen in der Pflicht, ihre Wirtschaft besser aufzustellen und mehr und bessere Arbeitsplätze[iii] zu schaffen. Haben diese Länder, z.B. Spanien, ein Interesse an einem Projekt, in dem ihre Jugendlichen in die Schweiz gehen, um dort eine Lehre zu machen? Folgendes scheint mir klar zu sein:
- Die Schweiz kann nicht Jugendliche in einem anderen Land offensiv bewerben, ohne dass die Regierung jenes Landes damit einverstanden ist.
- Ein Land wie zum Beispiel Spanien wird einem solchen Projekt nur zustimmen, wenn die Ausgebildeten nach der Lehre wieder in ihr Heimatland zurückkehren.
- Das andere Land hat nur Interesse an Ausbildungen, welche für ihre wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung sind.
Wie gross ist die Schnittmenge des Interesses der Schweiz und eines anderen Landes, ein solches Projekt durchzuführen?
Zweitens: Erfahrungen
Die Schweiz steht mit ihrer Idee nicht allein da. In Deutschland gibt es schon Erfahrungen damit. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat ein 140-Millionen-Euro-Programm aufgelegt, mit dem gezielt Jugendliche für eine Berufsbildung in Deutschland angeworben und finanziell gefördert werden sollen. Gemäss eines Papiers des Deutschem Gewerkschaftsbund DGB war „die Anwerbung ausländischer Jugendlicher für eine Berufsausbildung in Deutschland keine Erfolgsgeschichte: Projekte im Emsland (Anwerbung spanischer Jugendlicher) und in Brandenburg (Anwerbung polnischer Jugendlicher) müssen als gescheitert betrachtet werden. Die überwiegende Zahl der Jugendlichen hat die Ausbildung entweder nicht angetreten oder abgebrochen. So erreichten in Brandenburg lediglich fünf von 22 polnischen Jugendlichen das zweite Ausbildungsjahr. Im Emsland wurden nur sechs von 14 spanischen Bewerberinnen und Bewerbern in Ausbildung vermittelt. Ursprünglich sollten 35 spanische Jugendliche für eine Ausbildung gewonnen werden“[iv].
Was weiss man über die Erfahrungen anderer Länder mit solchen Projekten? Welches sind die Gründe für das Scheitern oder das Gelingen?
Drittens: Das schweizerische Potential ausnützen
Neben dem Blick ins Ausland lohnt sich auch ein Blick auf das inländische Potential an möglichen Personen zur Verminderung des Fachkräftemangels:
1. Erwachsene ohne berufliche Grundbildung
In der Schweiz gibt es rund 600‘000 Personen ohne berufliche Grundbildung. Davon haben mindestens 50‘000 Personen ein Potential, eine berufliche Grundbildung über eine Nachholbildung abzuschliessen. Das Projekt des SBFI „Berufsabschluss und Berufswechsel für Erwachsene“ geht den Möglichkeiten von Nachholbildungen von Erwachsenen nach und leistet so einen Beitrag
- zur Bekämpfung des Fachkräftemangels,
- zur Entlastung der Sozialversicherungen und
- zur persönlichen Besserstellung von Personen ohne berufliche Grundbildung.
2. WiedereinsteigerInnen
Eine Untersuchung von Travail.Suisse zeigt, dass pro Jahr etwa 13‘000 Personen nach einem familienbedingten Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt wieder eine Arbeit suchen. Je länger sie vom Arbeitsmarkt fern blieben, umso schwieriger haben es diese Personen, wieder eine ihren potentiellen Fähigkeiten entsprechende Arbeitsstelle zu finden. Die Unterstützungen durch die öffentliche Hand und die Sozialversicherungen fehlen weitgehend oder sind ungenügend und nehmen auf die Bedürfnisse der Zielgruppe kaum Rücksicht.
3. Ältere Arbeitnehmende
Die demografische Entwicklung bringt es mit sich, dass die älteren Arbeitnehmenden für die Wirtschaft bedeutender werden. Ihre Förderung und Weiterbildung blieb bisher aber ausserhalb politischer Überlegungen. Sollen sie aber ihre Rolle in Zukunft besser wahrnehmen können, sind Überlegungen zu einer besseren Ausnutzung ihres Potentials zu machen und die Erkenntnisse in Projekte umzusetzen.
4. In der Schweiz lebende AusländerInnen
Viele AusländerInnen in der Schweiz verfügen zwar über Ausbildungen. Ihre Diplome werden aber nicht anerkannt, so dass sie sich unter ihrem Wert im Arbeitsmarkt „verkaufen“ müssen.
Sind nicht eher die Potentiale der Schweiz besser auszunutzen als ausländische Jugendliche für Lehrstellen in der Schweiz anzuwerben?
Viertens: Ausländische Jugendliche sind eine „schwierige“ Zielgruppe
Einer der Gründe, warum in Grenzregionen die Lehrlingsausbildung von ausländischen Jugendlichen kaum Probleme bereitet, ist, dass diese Jugendlichen ihr soziales Netz nicht verlassen müssen. Sie können ihr Zuhause behalten. Das ist mit dem bundesrätlichen Projekt nicht möglich. Die Jugendlichen werden in einer wichtigen Entwicklungsphase ihres Lebens aus ihrem angestammten Umfeld herausgelöst und werden während der Adoleszenz drei bis vier Jahre ihrem familiären und kulturellen Umfeld entfremdet. Soll ein solches Konzept funktionieren, müssen viele Rahmenbedingungen erfüllt sein[vi].
Welche Rahmenbedingungen müssen in der Schweiz erfüllt sein, dass ein solches Projekt für die ausländischen Jugendliche zu einem Erfolg werden kann?
Fünftens: Berufsbildung exportieren statt Lehrlinge importieren[vii]
Statt Lehrlinge zu importieren könnte man ja auch die Berufsbildung exportieren und damit mithelfen, die Jugendarbeitslosigkeit in den betreffenden Ländern zu minimieren. So überzeugend in einem ersten Moment diese Idee erscheint, so schwierig ist ihre Umsetzung. Ein Statusbericht über die duale Ausbildung als Exportschlager zeigt, dass die Staaten, die mit der dualen Berufsbildung beglückt werden sollen, sich „schwer tun, ihre Bildungs- und Berufsbildungssysteme … zu reformieren“[viii].Widerstände sind von den Regierungen, der Administration und den Arbeitgebern trotz vorgängigen Abmachungen spürbar. Der in Deutschland (und in der Schweiz) zum Teil hochgelobten dualen Berufsbildung begegnet bei der Umsetzung viel Skepsis. Dies ist insoweit verständlich, als einerseits die Implementierung eines fremden Systems als Eingriff in die eigene Autonomie/Souveränität erlebt wird und anderseits das duale Berufsbildungssystem komplex und deshalb nur schwer verständlich und vermittelbar ist.
Wie kann die Schweiz ihr Berufsbildungssystem „verkaufen“ ohne imperialistisch zu wirken?
Sechstens: Diskussions- und Handlungsvorschläge
Die obigen Überlegungen führen uns zu folgenden Diskussions- und Handlungsvorschlägen:
- Es muss Klarheit herrschen über die Ziele des Projektes. Geht es die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der Jugendlichen in den EU-Staaten oder um die Bekämpfung des Fachkräftemangels bei uns? Solange das nicht klar ist, redet man aneinander vorbei und macht Fehler bei der Entwicklung eines Projektes.
- Wenn es um den Fachkräftemangel bei uns geht, stehen für Travail.Suisse andere Potentiale als die Jugendliche aus der EU im Vordergrund, die ausgeschöpft werden sollen. Dabei ist zu fragen, wie das vorhandene Lehrstellenpotential in Bezug auf die anderen Potentiale eingesetzt werden kann.
- Wenn es um die Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit in der EU geht, so geht es primär nicht darum, unser Berufsbildungssystem zu exportieren, sondern PolitikerInnen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Jugendliche und Eltern anderer Länder auf Berufsbildung „glustig“ zu machen. Wenn dann Anfragen kommen, sollten die Verbundpartner die Ressourcen haben, darauf angemessen zu antworten. Konkret bedeutet dies, dass über Art.54/55 BBG Gelder für Projekte für Veranstaltungen mit ausländischen Partnern zur Auseinandersetzung über das duale Berufsbildungssystem vorhanden und zugänglich sein sollten.
- Statt Lehren für ausländische Jugendliche sollten wir in der Schweiz eher Praktika anbieten, z.B. für BerufsbildnerInnen, HR-Verantwortliche, BranchenvertreterInnen etc.
- Hinter allem Handeln muss die Überzeugung stehen, dass die professionelle Vermittlung von praktischen – nicht nur von theoretischen – Kompetenzen eine Volkswirtschaft stärkt. Die konkrete Ausgestaltung des professionellen Berufsbildungssystems ist dagegen nicht unwichtig, aber zweitrangig.
07.10.2013 Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse
[i] https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Bundesrat-will-Junge-fuer-Lehre-in-die-Schweiz-holen-31524276
[ii] Die Jugenderwerbslosigkeit in der EU wird gegenwärtig mit 23,7% angegeben. Das bedeutet jedoch nicht, dass „fast jeder vierte Jugendliche arbeitslos wäre: Die Arbeitslosenquote misst die Zahl der Arbeitslosen in Prozent der Erwerbspersonen, doch zählen in diesem Alter viele Menschen zum Beispiel als Studenten noch gar nicht zu den Erwerbspersonen“. NZZ, Mittwoch, 2. Oktober 2013, S. 27.
[iii] https://translate.google.ch/translate?hl=de&sl=en&u=https://ec.europa.eu/employmentstrategy&prev=/search%3Fq%3Deuropean%2Bemployment%2Bstrategy%2Btowards%2Bmore%2Bbetter%2Bjobs%26client%3Dfirefox-a%26hs%3DuA3%26sa%3DX%26rls%3Dorg.mozilla:de:official%26biw%3D1680%26bih%3D880
[iv] „Berufliche Ausbildung in Deutschland – ein Beitrag zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa. DGB-Position zum Programm MobiPro-EU.“
[vi] Der in der Fussnote 1 erwähnte Bericht des DGB erwähnt 10 Kriterien für gute Rahmenbedingungen.
[vii] Diese Forderung stellt Rudolf Strahm in einer Kolumne vom 27.08.2013 im Tagesanzeiger auf.
[viii] Hermann Nehls, Thomas Giessler, Matthias Anbuhl, Duale Ausbildung als „Exportschlager“?, Statusbericht zu Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Zusammenarbeit in der beruflichen Grundbildung und der Aktivitäten der Bundesregierung, Berlin, 09. September 2013, S. 6.
Neue Zeit – neue Herausforderungen
Am 1. Januar 2004 trat das neue Berufsbildungsgesetz (BBG) in Kraft. Als besondere Neuerung verfügt das BBG über einen Projektfonds. Mit seiner Hilfe können wichtige und innovative Berufsbildungsprojekte mitfinanziert werden. Für Travail.Suisse, den unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, ist dieser Projektfonds ein grundlegendes Element für ein entwicklungsfähiges Berufsbildungssystem. Die Kriterienliste für die Bewilligung von Projekten muss deshalb auch regelmässig den aktuellen Bedürfnissen angepasst werden.
Artikel 54 und 55 des neuen Berufsbildungsgesetzes[i] sind zwei der Garanten für ein innovatives Berufsbildungssystem. Auf ihrer Grundlage können Berufsbildungsprojekte von Kantonen, Organisationen der Arbeitswelt oder anderen Akteuren der Berufsbildung mitfinanziert werden. Jährlich stehen diesem Projektfonds 10% der Berufsbildungsausgaben des Bundes zur Verfügung. Eine Legion von Lehrstellenprojekten fand in diesem Projektfonds ihre finanzielle Basis. Ausbildungsverbünde konnten damit finanziert, der Aufbau des Case Management angestossen, Berufsbildungsverordnungen aktualisiert und Berufsschauen durchgeführt werden, um nur einige der Projekte zu nennen. Der Fonds übernimmt normalerweise 60% der Projektkosten, so dass die Träger selber 40% Eigenleistungen einbringen müssen. Travail.Suisse hat aktuell drei Projekte am Laufen, die durch Fondsgelder angestossen wurden: Ein äusserst erfolgreiches Theaterprojekt für Berufsfachschulen, das sich mit Fragen der Integration verschiedener Nationalitäten im Lehrlingsalltag beschäftigt[ii]; zweitens das Projekt „Zukunft statt Herkunft“, das Instrumente für eine faire Lehrlingsselektion bereitstellt[iii] und drittens das Projekt „Wiedereinstieg“, das sich mit Handlungsfeldern und möglichen Massnahmen im Bereich der Bildung und Arbeitsmarktintegration von Wiedereinsteigenden auseinandersetzt[iv].
Der Kontext des Berufsbildungsgesetzes 2004: Lehrstellenmangel
Als das neue Berufsbildungsgesetz im Jahre 2002 ausgearbeitet und 2004 in Kraft gesetzt wurde, herrschte Lehrstellenmangel. Die Berufsbildungspolitik musste sich vor allem mit der Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen im eigenen Land auseinandersetzen. Der Blick auf die Erwachsenen in der Berufsbildung wie auch der Blick über die eigenen nationalen Grenzen hinaus war zu dieser Zeit kaum möglich. Entsprechend ist auch das Berufsbildungsgesetz ausgestaltet. Für den Projektfonds hat das negative Auswirkungen. Er kann verschiedene innovative Projekte nicht finanzieren, weil die gesetzlichen Grundlagen fehlen. Das ist natürlich für einen Innovationsfonds, der heute nicht die Probleme von 2004, sondern auch diejenigen von 2013ff. lösen sollte, eine kleine Katastrophe.
Neue Fragestellungen 2013
Situationen ändern sich, auch in der Berufsbildung. Aus dem Lehrstellenmangel ist ein zunehmender Fachkräftemangel geworden. Zudem ist die internationale Diskussion um die Berufsbildung in Fahrt gekommen, einerseits durch die Personenfreizügigkeit, die eine Vergleichbarkeit der Ausbildungen nötig macht, andererseits durch die hohe Jugenderwerbslosigkeit in verschiedenen Ländern Europas, die den Mangel der (rein) akademischen Bildungssysteme aufzeigt und zu einer Neubewertung der (dualen) Berufsbildung führt[v]. Innovative Projekte im Umfeld des Fachkräftemangels wie auch der internationalen Diskussionen sollten deshalb mitfinanziert werden können. Dazu sind Gesetzesänderungen nötig.
Förderung der Berufsbildung für Erwachsene
Eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt setzt heute minimal einen Abschluss auf Sekundarstufe II voraus. In der Schweiz verfügen rund 600‘000 Personen zwischen 25 und 65 Jahren über keinen solchen. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels ist es politisch angesagt, dieses Potential optimal auszunützen. Bildungspolitisch sind die Instrumente für die Berufsbildung für Erwachsene geschaffen: Abschlussprüfung für Erwachsene, Validierung von Bildungsleistungen, verkürzte Lehre und berufliche Grundbildung[vi]. Was hingegen fehlt, ist die gesetzliche Grundlage für die Förderung der Berufsbildung für Erwachsene. Diese Basis ist zu erstellen, und zwar nach Travail.Suisse im Artikel 12 des BBG. In seiner gegenwärtigen Fassung verpflichtet er die Kantone, geeignete Massnahmen zu ergreifen, die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten. Angesichts der sich verändernden Situation (aus dem Lehrstellenmangel ist ein Fachkräftemangel geworden) ist dieser Gesetzestext zu ergänzen. Neu müssen von diesem Artikel auch Erwachsene ohne Berufsausbildung erfasst werden. Artikel 12 könnte dann neu folgendermassen lauten:
«Vorbereitung auf die berufliche Grundbildung und die berufliche Nachholbildung :
Die Kantone ergreifen geeignete Massnahmen,
1 die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten;
2 (neu) die erwachsenen Personen ohne berufliche Grundbildung die Möglichkeit schaffen, über die anderen Qualifikationsverfahren (Nachholbildung) einen Abschluss der beruflichen Grundbildung zu erlangen.»
Eine solche Gesetzesänderung ist nötig, damit die Förderung der beruflichen Bildung für Erwachsene auch in das Kapitel 8 des Berufsbildungsgesetzes (Beteiligung des Bundes an den Kosten der Berufsbildung) und dort insbesondere in die Artikel 53 (Pauschalbeiträge an die Kantone) und Artikel 55 (Beiträge an besondere Leistungen im öffentlichen Interesse) aufgenommen werden kann. Nur so kann die notwendige Finanzierungssicherheit geschaffen werden.
Massnahmen zugunsten von älteren Arbeitnehmenden
In der Bildungsgesetzgebung fehlen bisher die älteren Arbeitnehmenden. Weder im Berufsbildungsgesetz noch im Weiterbildungsgesetz, das gegenwärtig im Parlament diskutiert wird, werden sie erwähnt. Sie kommen als spezielle Zielgruppe von Bildung und Weiterbildung in der Gesetzgebung nicht vor. Entsprechend fehlen heute auch Bildungsprojekte, welche die Zielgruppe „ältere Arbeitnehmende“ im Fokus haben. Dabei ist der Arbeitsmarkt angesichts der demografischen Entwicklung immer mehr auf gut qualifizierte ältere Arbeitnehmende angewiesen. Die Bildungspolitik ist deshalb gefordert, mit ihren Instrumenten die Arbeitsmarktfähigkeit der älteren Arbeitnehmenden zu stärken. Travail.Suisse schlägt vor, dass der Artikel 32 BBG den neuen Herausforderungen angepasst wird:
„Art. 32 Massnahmen des Bundes
1 Der Bund fördert die berufsorientierte Weiterbildung.
2 Er unterstützt insbesondere Angebote, die darauf ausgerichtet sind:
a. Personen bei Strukturveränderungen in der Berufswelt den Verbleib im Erwerbsleben zu ermöglichen;
b. Personen, die ihre Berufstätigkeit vorübergehend eingeschränkt oder aufgegeben haben, den Wiedereinstieg zu ermöglichen,
c. (neu) durch geeignete Massnahmen die Arbeitsmarktfähigkeit der älteren Arbeitnehmenden zu erhalten und zu verbessern.“
Förderung von internationalen Projekten
Die Berufsbildung der Schweiz ist zwar erfolgreich. Ihre Spezialitäten sind aber im internationalen Umfeld noch viel zu wenig bekannt und müssen daher noch bewusster verkauft werden. Das trifft insbesondere auch auf die höhere Berufsbildung zu. Das neue Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Travail.Suisse wird die Arbeit des Staatssekretariates auch daran messen, ob es ihm gelingt, die Berufsbildung im europäischen und internationalen Kontext besser zu „verkaufen“, das heisst, besser zu positionieren und so Schritt für Schritt eine gleichwertige Anerkennung der berufsbezogenen mit den allgemeinbildenden Bildungswegen auch auf internationaler Ebenen zu erreichen. Aus Sicht von Travail.Suisse wäre es klug, wenn das Staatssekretariat die Verbundpartner in den Verkauf der Berufsbildung vermehrt einbeziehen würde. Eine Möglichkeit wäre, den Artikel 55.3 des Berufsbildungsgesetzes dafür einzusetzen[vii] und vom Bundesrat zu erlangen, dass spezifische und innovative Projekte der Verbundpartner zum „Verkauf“ der Berufsbildung auf internationaler Bühne in Zukunft über die Artikel 54 und 55 finanziert werden können. Gegenwärtig fehlt dem Berufsbildungsgesetz die Dimension einer Verantwortung der Verbundpartner für die internationale Positionierung der Berufsbildung. Es ist daraufhin zu arbeiten, dass dieses Anliegen auf eine geschickte Art in eine Revision des Berufsbildungsgesetzes eingebracht wird.
Arbeitssicherheit – Knowhow-Sicherung in der Berufsbildung
Unfallverhütung ist Aufgabe der Arbeitgeber. Das gilt auch in Bezug auf die Lehrlinge. Diese Gruppe ist allerdings überdurchschnittlich in Arbeitsunfälle verwickelt[viii]. Zudem ist es die Aufgabe des SBFI, jene Ausnahmen zu bewilligen, die Jugendlichen erlauben, gefährliche Arbeiten während der Lehre zu verrichten[ix]. Die Berufsbildung hat daher eine doppelte Motivation, das Thema Arbeitssicherheit in ihrem Umfeld besser zu bearbeiten, z.B. über innovative Projekte. Es ist ernsthaft die Frage zu stellen, wie in Zukunft das Thema „Arbeitssicherheit“ in der Berufsbildung bearbeitet werden soll. Dies insbesondere auch deshalb, weil Forderungen auf dem Tisch liegen, die Altersgrenze für gefährliche Arbeiten von 16 Jahren auf 15 Jahre zu senken.
Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse, 23.09.2013
[iv] A. Zihler, V. Borioli Sandoz, Die Rückkehr ins Berufsleben erfolgreich meistern, Bern, Februar 2013.
[vii] BBG Art. 55.3: Der Bundesrat kann weitere Leistungen im öffentlichen Interesse festlegen, für die Beiträge gewährt werden können
[ix] Jugendarbeitsschutzverordnung, ArGV 5: Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI)2 kann mit Zustimmung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) für Jugendliche ab 16 Jahren insbesondere in den Bildungsverordnungen Ausnahmen vorsehen, sofern dies für das Erreichen der Ziele der beruflichen Grundbildung oder von behördlich anerkannten Kursen unentbehrlich ist. Es legt die notwendigen Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes fest.
Das Weiterbildungsgesetz – Eine Bewertung aus Sicht von Travail.Suisse
Vortrag gehalten anlässlich der Fachkommissionsitzung Wissenschaft, Bildung und Kultur der SP Schweiz:
Dienstag, 11. Juni 2013, 18.15-19.45 Uhr, Bundeshaus, Zimmer 286.
Grundsätzliche Bemerkungen:
Dem vom Bundesrat vorgelegten Entwurf kann zugestimmt werden. Er enthält keine grundsätzlichen Fehler, die dazu zwingen würden, ihn abzulehnen. Allerdings ist in der parlamentarischen Arbeit daraufhin zu arbeiten, dass das Gesetz durch einige Anpassungen aufgewertet wird.
Definition von Weiterbildung Art. 3:
Mit der vorliegenden Definition des lebenslangen Lernens kann man leben.
- Sie bringt Klarheit in die Begrifflichkeit. Allerdings nur, wenn sie sauber angewendet wird, was gerade bei Statistiken oft Probleme schafft.
- Mit dieser Definition in Art. 3 lässt sich das Problem der Anrechnung von Bildungsleistungen an die formale Bildung darstellen (vgl. Art. 7)
- Die Definition macht aber auch darauf aufmerksam, worüber das Weiterbildungsgesetz schweigt, nämlich über das Phänomen der Weiterbildungsabschlüsse. Sie existieren. Sie kommen aber in der Definition nicht vor.-
Das Weiterbildungsgesetz muss in Art. 3 die Weiterbildungsabschlüsse aufnehmen:
Art 3. Begriffe
In diesem Gesetz bedeuten:
1. Weiterbildung (nicht-formale Bildung): strukturierte Bildung ausserhalb der formalen Bildung, (neu) die zu Weiterbildungsabschlüssen führen kann.
Weiterbildungsabschlüsse (neu)
Weiterbildungsabschlüsse spielen in der Bildungslandschaft aus zwei Gründen eine wichtige Rolle:
Erstens ermöglichen sie im nichtformalen Bildungsbereich standardisierte Abschlüsse, die gerade im Verfahren zur Anrechnung von Weiterbildung an die formale Bildung wichtig sein können und auch auf dem Arbeitsmarkt ihren Wert haben.
Zweitens entlasten die Weiterbildungsabschlüsse das formale System, indem sie einen Bildungsbereich ordnen, ohne dass der Staat eingreifen muss (Modularisierung, Referenzrahmen, standardisierte Abschlüsse).
Gesetzlich wäre es sinnvoll, wenn in Artikel 12 erwähnt würde, dass der Bund Organisationen der Weiterbildung darin unterstützen kann, Weiterbildungsabschlüsse aufzubauen.
Zudem wäre es sinnvoll, wenn im Gesetz (z.B. im Artikel 7) erwähnt würde, dass Weiterbildungsabschlüsse unter bestimmten Bedingungen zum Nationalen Qualifikationsrahmen referenziert werden können.
Verantwortung Art. 5
Nach dem Weiterbildungsgesetz sollen die Arbeitgeber die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begünstigen. Diese Bestimmung wird gemäss dem erläuternden Bericht als Appell, nicht als Verpflichtung verstanden. Das heisst die Arbeitgeber, die diesem Appell nicht nachkommen, haben keine Konsequenzen zu fürchten. Die Bedeutung dieser Bestimmung liegt daher nahe bei Null. Das Weiterbildungsgesetz sollte daher eine Bestimmung aufnehmen, die Konsequenzen für die Arbeitgeber vorsieht, welche die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden nicht begünstigen.
1 Der einzelne Mensch trägt für sich die Verantwortung, sich weiterzubilden.
2 Die öffentlichen und die privaten Arbeitgeber begünstigen die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. (neu) Die Verordnung regelt die Sanktionsmöglichkeiten für die Nichtwahrnahme dieser Aufgabe.
Mit Sanktionen reagiert werden muss, wenn z.B. Betriebe nicht bereit sind, im Zusammenhang mit Projekten im Bereich der Grundkompetenzen zu kooperieren oder Angestellte erwerbslos werden. Beim Eintritt der Erwerbslosigkeit soll festgestellt werden, ob eine Person – rückblickend auf die letzten zehn Jahre – Weiterbildung erhalten hat oder nicht. Arbeitgeber, die nichts oder zu wenig unternommen haben, um ihre MitarbeiterInnen weiterzubilden, sollen bis zu maximal 66 Taggelder (drei Monate) der Arbeitslosenkasse übernehmen müssen.
Im Grundsatz soll gelten, dass Arbeitnehmende im Durchschnitt drei Tage Weiterbildung pro Jahr erhalten. Die Dauer der Weiterbildung wie auch die vermittelten Fähigkeiten und Kompetenzen werden in einer Bestätigung festgehalten.
Anrechnung von Bildungsleistungen an die formale Bildung Art. 7
Die Bildungsgesetzgebung sieht die Möglichkeit von Nachholbildungen, zum Beispiel durch Anerkennung von Bildungsleistungen, vor. Es ist aber heute nicht so ausgestaltet, dass Nachholbildungen bewusst gefördert werden. Der Arbeitsmarkt ist jedoch aufgrund der demografischen Entwicklung und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels verstärkt auf Nachholbildungen angewiesen, insbesondere auf Nachholbildungen von Personen, die noch über keinen beruflichen Erstabschluss verfügen. Eine Studie von Travail.Suisse zeigt, dass in der Schweiz von den rund 600’000 Personen im erwerbsfähigen Alter ohne beruflichen Erstabschluss rund 52’000 Personen sich sehr eignen würden, eine Nachholbildung über die Anerkennung von Bildungsleistungen zu erreichen. Um dieses Potential auszunützen, schlägt Travail.Suisse eine gesetzliche Regelung im Weiterbildungsgesetz vor, und zwar eine Ergänzung im Artikel 7:
«Art. 7 Anrechnung von Bildungsleistungen an die formale Bildung
1 Bund und Kantone sorgen mit ihrer Gesetzgebung für transparente und möglichst gleichwertige Verfahren zur Anrechenbarkeit von Weiterbildung und informeller Bildung an die formale Bildung.
3 (neu) Sie ergreifen zusammen mit den Organisationen der Arbeitswelt Massnahmen, die erwerbstätige Personen ohne berufliche Grundbildung auf die anderen Qualifikationsverfahren (Nachholbildung) vorbereiten.»
Es wäre schade, wenn diese Chance nicht gepackt und das Potential an Nachholbildungen nicht genützt würde. Denn die Alternative zu mehr Nachholbildungen sind erstens mehr Migration und zweitens höhere Kosten bei der sozialen Sicherheit.
Lösung von gesellschaftlichen Problemen
Weiterbildung kann mithelfen, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Diese Möglichkeit wird leider im vorliegenden Gesetzesentwurf in keiner Art und Weise ergriffen. Dabei könnte mit einer kleinen Bestimmung und einem bescheidenen Budget der gesellschaftliche Wert des Weiterbildungsgesetzes massiv erhöht werden. Die Idee, dass Problemlösungen immer über Spezialgesetze angepackt werden sollen und daher im Weiterbildungsgesetz keine Fördertatbestände aufgeführt werden dürfen, schwächt die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit. Nicht für alle gesellschaftlichen Probleme braucht es ein Spezialgesetz. Manchmal genügt eine Anschubfinanzierung über einen Projektfonds, um die Lösung gesellschaftlicher Probleme anzustossen. Solche Projekte sind zum Beispiel in der Seniorenbildung[1] denkbar, aber auch in der Elternbildung oder in der politischen Bildung.
Travail.Suisse erachtet es als absolut notwendig, dass das Weiterbildungsgesetz einen Projektfonds zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen vorsieht. Ohne einen solchen Fonds von etwa 12 Millionen Franken pro Jahr vergibt sich die Schweiz eine grosse Chance, mit relativ geringen Mitteln, die Weiterbildung zu einem wichtigen Instrument der gesellschaftlichen Problemlösung zu machen.
Reform der berufsorientierten Weiterbildung
Travail.Suisse schlägt vor, dass parallel zur Diskussion des Weiterbildungsgesetzes auch die Artikel im Berufsbildungsgesetz zur berufsorientierten Weiterbildung (Art.30-32 BBG) reformiert werden. Um wichtige Fragen im Zusammenhang mit dem Wiedereinstieg, den älteren Arbeitnehmenden und der Nachholbildung lösen zu können, ist eine Reform absolut nötig.
Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse
[1] Beispiel: In Zukunft sind wir vielleicht darauf angewiesen, dass ehrenamtliche Senioren und Seniorinnen bei der Begleitung von Demenzkranken mithelfen. Ein Projektfonds im Weiterbildungsgesetz sollte ermöglichen, dass eine kompetente Organisation eine Anschubfinanzierung erhält, um ein Projekt aufzubauen, in deren Folge ehrenamtliche BegleiterInnen ausgebildet werden können. Die Anschubfinanzierung umfasst z.B. die Finanzierung des Projektleiters in der Aufbauphase, die Erstellung der Bildungsunterlagen und die Ausbildung der ersten AusbildnerInnen, die vor Ort mit den Senioren und Seniorinnen arbeiten.